Erste Analysen
Vor dem beschriebenen Hintergrund ist nun zu klären, wie die Unterschiede zu bewerten sind, die zwischen den verschiedenen Textfassungen bestehen. Dies betrifft zunächst die gedruckten Grundtexte, da sie unterschiedliche Ansätze der Textforschung und Textkritik repräsentieren. Worin bestehen also die Unterschiede zwischen den genannten Textfassungen TR, NA und RP, und was kann über sie gesagt werden?
Analyse der drei bedeutendsten Grundtextrichtungen
Im Rahmen der hier beschriebenen Forschungen habe ich zunächst alle drei Grundtexttypen (TR, NA, RP) über den gesamten Text des NT miteinander verglichen und an allen Stellen, wo sie differieren, Handschriften verschiedenen Alters und Typs untersucht, um zu ermitteln, wie sie sich auf die verschiedenen Varianten verteilen. Diese Kollationen habe ich 2002-2006 vorwiegend im Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster durchgeführt. Einige der Erkenntnisse, die sich daraus ergeben haben, fließen in folgende Einschätzungen ein.
Vorzüge von TR RP gegen NA
Bekanntlich enthält der traditionelle TR, übereinstimmend mit dem Mehrheitstext (RP), zahlreiche Wörter und Aussagen, die im NA-Text fehlen. So werden die Passagen Mk 16,9-20 (das Ende des Markus-Evangeliums) und Joh 7,53-8,11 (die Rettung der Ehebrecherin) zwar von der großen Mehrheit der Handschriften überliefert (RP und TR), aber nach dem Ansatz der NA-Herausgeber als nicht ursprünglich betrachtet. Dasselbe gilt für Aussagen wie z.B. Mt 18,11 ("der Menschensohn ist gekommen, um das Verlorene zu retten"), Lk 23,34 ("Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"), Mt 5,44 ("segnet, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen"), Lk 4,18 ("zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind") und einige andere bekannte und geistlich wertvolle Sätze und Satzteile.
Die Kollationen haben gezeigt, dass die meisten dieser vom MT überlieferten Worte nicht erst in den Handschriften des späteren Minuskeltextes auftauchen, sondern schon in den alten Majuskelhandschriften der byzantinischen Textform stehen, von denen einige bis ins 5.-6. Jahrhundert zurückreichen. (In wenigen Fällen bieten diese alten Majuskeln, besonders wenn sie gemischten Texttypen angehören, allerdings auch Lesarten, die von NA gegen die spätere Mehrheit bevorzugt werden, s.u.) Teilweise werden diese Worte auch von den antiken Übersetzungen bezeugt (Peschitta und Vulgata), die fast genauso alt sind wie der von NA bevorzugte Codex Vaticanus. Insofern sind diese MT-Lesarten nicht in jeder Hinsicht als sekundär erkennbar, sondern können durchaus als alt, gut bezeugt und verbreitet angesehen werden.
Manche dieser in TR RP überlieferten Passagen sind inhaltlich so bedeutsam, dass auch Bibelübersetzer, die sonst NA folgen, sie durchaus im Text belassen (so wie sie von der großen Mehrheit der Handschriften überliefert werden) - sicher zu Recht! Denn wo Texte, die aufgrund ihrer Bedeutung und Wirksamkeit offenbar zum inspirierten Wort Gottes gehören, aus dem Bibeltext gestrichen werden, überschreitet die Textkritik die Grenze zur Bibelkritik. Daher dürfen und sollten - jedenfalls aus der Perspektive des Glaubens und der Inspiration der Schrift - die von der Textkritik angewandten Prinzipien, die zum Ausschluss solcher wichtigen Verse führen, hinterfragt werden.
Vorzüge von NA RP gegen TR
Zum anderen enthält der TR aber auch Lesarten, die nicht von der Mehrheit der Handschriften bezeugt werden. Aus Sicht der TR-Vertreter würde nun argumentiert werden, der MT hätte sich im Nachhinein vom ursprünglichen Wortlaut entfernt und die TR-Lesart ginge auf den Urtext zurück. Dies müsste sich bei den Kollationen darin bemerkbar machen, dass diese TR-Lesarten vermehrt in den ältesten Exemplaren der byzantinischen Handschriften auftauchen. Dies ist jedoch in der Regel nicht der Fall (mit Ausnahmen, s.u.), im Gegenteil, der Konsens der beiden großen Textformen (älteste Handschriften und Mehrheitstext) widerlegt die abweichende TR-Lesart (die oft erst in späteren einzelnen Minuskeln überhaupt zu finden ist) als eine schwach bezeugte und sekundäre Variante, d.h. als Überlieferungsfehler.
Einige dieser Lesarten sind nur durch wenige (z.B. die von den Herausgebern des TR benutzten) Handschriften bezeugt, oder sind durch Erasmus' Benutzung der Vulgata bedingt. Ein Beispiel hierfür ist die TR-Lesart “sie fanden” (Mt 2,11), während die ältesten und die meisten Handschriften übereinstimmend “sie sahen” lesen (die KJV korrigiert das schon). Die Auslassung der Worte “und der dritte Teil der Erde verbrannte” (Offb 8,7) im TR ist offenbar durch sog. Homoioteleuton verursacht (versehentlicher Sprung beim Abschreiben durch aufeinander folgende, optisch ähnliche Passagen im Vorlagetext). Die TR-Lesart "vom Buch des Lebens" (statt "vom Baum des Lebens") in Offb 22,19 entstand durch Rückübersetzung aus dem Lateinischen, weil die von Erasmus benutzte Handschrift (2814, früher: 1r) unvollständig war.
Vorzüge von NA gegen TR RP
Andere Stellen im TR sind zwar durch eine große Anzahl von späteren griechischen Handschriften bezeugt, aber doch als Abschreibfehler innerhalb der griechischen Tradition erkennbar. Ein Beispiel für solche Fehler im späteren griechischen Text ist Lk 12,15: Die ältesten Handschriften (sowohl alexandrinische als auch byzantinische) haben noch übereinstimmend “Hütet euch vor aller Habsucht”, doch etwa die Hälfte der byzantinischen Majuskeln reduziert dies dann zu “Hütet euch vor der Habsucht”, und im späteren Minuskeltext überwiegt die zuletzt genannte Lesart mehrheitlich. Solche Fälle beweisen, dass es innerhalb der byzantinischen Textform über die Jahrhunderte hinweg Verschiebungen gegeben hat (wenn auch wenige). Die frühen Übersetzungen ins Lateinische, Syrische etc. (Versionen) bezeugen hier ebenfalls die ältere Lesart (obwohl sie sonst oft den Mehrheitstext wiedergeben).
Daraus kann man schließen, dass auch in anderen Fällen, in denen die Lesart der ältesten griechischen Handschriften bestätigt wird durch ihre Übereinstimmung mit den Versionen, dieses Zusammentreffen unabhängiger Zeugen ein starkes Indiz für den ursprünglichen Text ist, auch wenn die spätere griechische Mehrheit davon abweicht. Ein Beispiel dafür ist die erkennbar durch Homoioteleuton bedingte Auslassung von "obwohl ich nicht unter Gesetz bin" (1.Kor 9,20), ein Versehen, das offenbar zu einem frühem Zeitpunkt erfolgt ist und daher auch schon in älteren byzantinischen Handschriften überwiegt (wobei zu berücksichtigen ist, dass für die Paulusbriefe nicht so alte byz. Majuskeln erhalten sind wie für die Evangelien), sich aber durch den genannten Umstand als Überlieferungsfehler erweist. Ein ähnliches Beispiel ist die Auslassung von 1.Joh 2,23b ("wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater") aufgrund von Homoioteleuton in der Handschriften-Mehrheit und somit in RP. Dies wurde aber in manchen TR-Ausgaben schon korrigiert (Beza, KJV, Luther 1912 und neuere Ausgaben von Schlachter 2000).
Vorzüge von NA TR gegen RP
Interessanterweise gibt es auch Stellen, wo der TR zusammen mit NA die richtige Lesart gegen RP bietet. Zum Beispiel lässt die spätere Mehrheit der Handschriften (und somit RP) die Worte “und Feuer” aus (Mt 3,11), sie stehen aber sowohl in den ältesten (also alexandrinischen) Handschriften, als auch in den meisten byzantinischen Majuskeln, nur wenige (E S V Ω) lassen es aus, doch wächst diese Minderheit im späteren Minuskeltext zur Mehrheit an. Etwas schneller verschwunden sind die Worte “Weckt die Toten auf” (Mt 10,8), die noch in den ältesten Handschriften auch des byzantinischen Typs (Purpurcodizes) stehen, aber schon in den späteren Majuskeln überwiegend ausgelassen sind. Der TR aber hat diese Worte bewahrt (allerdings in vertauschter Reihenfolge), zusammen mit NA.
Ursachen für diese alten Lesarten im TR (gegen den MT) ist die textkritische Berücksichtigung der lateinischen Vulgata durch die Herausgeber des TR (Beza hat außerdem auch den syrischen Text berücksichtigt), sowie gelegentliche nichtbyzantinische Lesarten in den für den TR benutzten Einzelhandschriften (besonders Minuskel 1, Mitglied der Lake-Gruppe).
Schlussfolgerungen
Diese ersten Analysen haben gezeigt: Keiner der drei vorliegenden Ansätze ist für sich genommen ausreichend, um an allen Stellen den optimalen Wortlaut des Grundtextes herzustellen. Oft sind diejenigen Lesarten zu bevorzugen, in denen zwei dieser Textfassungen gegen eine übereinstimmen, aber nicht immer. Der Mehrheitstext ist hilfreich, um die sowohl im TR als auch in NA befindlichen, schlecht bezeugten Minderheitslesarten zu überwinden, kann aber letztlich nur einen Teil der Probleme lösen (was besonders sichtbar wird in den o.g. Auslassungen durch Homoioteleuton). Der Grund für diese Einschränkung liegt vor allem darin, dass die Ausgaben des Mehrheitstextes, so wie sie publiziert wurden (HF, RP), nur dem späteren byzantinischen Minuskeltext folgen, ohne die frühbyzantinische Überlieferung (Majuskeln) und die Versionen (lateinische und syrische Überlieferung etc.) zu berücksichtigen. Um festzustellen, ob an einer bestimmten Stelle die Lesart von RP, NA oder TR zu bevorzugen ist, muss also jeweils der Überlieferungsbefund genauer untersucht werden, Pauschalrezepte helfen nicht weiter. Letztlich ist somit eine neue Grundtextausgabe nötig.