nt-grundtext

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Arbeitsbereich Textkonstitution


Ein wesentlicher Arbeitsbereich ist die Erarbeitung von Kriterien für die Textentscheidungen, die an Stellen mit gespaltener Überlieferung getroffen werden müssen, und darauf aufbauend die Durchführung entsprechender Textentscheidungen, um den Wortlaut des Grundtextes herzustellen.


   Ermittlung des Wortlauts durch Textentscheidungen


Nach der genannten Zielsetzung müssen an allen Textstellen, an denen die handschriftliche Überlieferung wesentlich gespalten ist, die jeweils richtigen Varianten in den Grundtext gesetzt (und die übrigen in den Apparat versetzt) werden, d.h. es müssen Textentscheidungen nach bestimmten Kriterien getroffen werden. Dabei können bereits bekannte Kriterien untersucht und ggf. übernommen oder modifiziert werden (s.u. 12 Grundregeln). Im Unterschied zur säkularen Textkritik soll hierbei allerdings auch der besondere Charakter des neutestamentlichen Textes, vom heiligen Geist inspiriertes Wort Gottes und heilige Schrift zu sein (Joh 10,35; 2.Tim 3,16 etc.), berücksichtigt werden.

 

   Stärken und Schwächen bisheriger Ansätze


Anhaltspunkte für die Kriterienbildung haben sich bereits aus den Ersten Analysen ergeben. Jeder der betrachteten Ansätze zur Gewinnung des Grundtextwortlauts (TR, NA, RP) besitzt in bestimmten Bereichen Schwächen, die zu überwinden sind, und in anderen Bereichen Stärken, die festzuhalten sind:

Aus der Analyse des TR können wir lernen, dass die Berücksichtigung der Versionen (also der antiken Übersetzungen ins Lateinische, Syrische etc.) hilfreich sein kann, um Überlieferungsfehler zu korrigieren; aber auch, dass die Orientierung an Einzelhandschriften zu Fehlern führt und vielmehr der Wortlaut ganzer Textformen erfasst werden muss.

Aus der Analyse des NA können wir lernen, dass die Berücksichtigung der ältesten Handschriften und die Anwendung textkritischer Überlegungen hilfreich sein kann, um Überlieferungsfehler aufzudecken; aber auch, dass eine unkritische Übernahme textkritischer Prinzipien aus der säkularen Philologie dem Wesen des Neuen Testaments nicht gerecht wird, sondern - dem Gegenstand entsprechend - geistliche Sichtweisen anzuwenden sind.

Aus der Analyse des RP (bzw. des MT überhaupt) können wir lernen, dass die Berücksichtigung einer großen Anzahl von Handschriften hilfreich ist, um Fehler in Einzelhandschriften oder einzelnen Zeugengruppen zu korrigieren; aber auch, dass die Beschränkung auf den späteren byzantinischen Minuskeltext (die quantitative Mehrheit) hierfür nicht reicht, sondern vielmehr eine qualitative Mehrheit mehrerer unabhängiger Überlieferungslinien bzw. Textformen erfasst werden muss, um auch Fehler zu korrigieren, denen ganze Textformen durch Mängel einer oft kopierten Vorlage (Archetyp) erliegen können.


   Kriterien für die Textkonstitution


Zusammenfassend lässt sich sagen: Bei der Bewertung der Überlieferung (äußere Kriterien) ist möglichst ein Konsens unabhängiger Überlieferungslinien zu suchen, zu denen neben der alexandrinischen Textform (älteste Handschriften) und der byzantinischen Textform (Mehrheit der späteren Minuskeln) auch die frühbyzantinischen Majuskeln, die Handschriften mit gemischten Texttypen, die Lektionarshandschriften und die alten Übersetzungen (lateinisch, syrisch, koptisch etc.) gehören.

Bei der Bewertung der Varianten (innere Kriterien) sind textkritische Prinzipien wie z.B. Berücksichtigung typischer Abschreibfehler oder wahrscheinlichste Genese der Varianten zu beachten, allerdings nur soweit, wie diese Prinzipien nicht im Widerspruch zum Wesen der inspirierten Schriften stehen.

Auf diese Weise können die Stärken der bisherigen Ansätze miteinander verbunden werden, um den Wortlaut des NT-Grundtextes neu zu ermitteln. (“Neu” heißt hier, den Wortlaut auf Basis der handschriftlichen Quellen unabhängig von Vorgaben gedruckter Ausgaben zu rekonstruieren; der Wortlaut selbst ist natürlich nicht neu, sondern eine Widerspiegelung der Texte in den überliefernden Handschriften des Neuen Testaments; neu ist höchstens die Gesamtkombination der Varianten, die sich als Einzelne aber schon in den bisherigen Ausgaben finden.)


   Ausgewogenheit des Ansatzes


Dieser Ansatz vermeidet beide Extreme, sowohl den Eklektizismus, d.h. das willkürliche Herauspicken subjektiv bevorzugter Lesarten aus der Vielzahl aller Textformen zu einem künstlich zusammengebastelten Wortlaut, als auch das Gegenteil, d.h. das sture Kopieren einer bestimmten, nach irgendwelchen Kriterien ausgewählten Textform oder Überlieferungslinie über alle Stellen hinweg. Denn es muss an jeder Stelle anhand der Gesamtheit der Überlieferung neu entschieden werden, welcher Variante (und somit welchen Zeugen) zu folgen ist (dies ist ein lokales Prinzip ähnlich der “lokal-genealogischen Methode” von NA, aber unter anderen Voraussetzungen).

Hier werden anhand geeigneter Schlüsselstellen, an denen die richtige Lesart deutlich zu erkennen ist, Anhaltspunkte gewonnen, wie bestimmte Kriterien, Methoden, Prinzipien und Textformen zu bewerten und zu gewichten sind, um dann - anhand dieses feststehenden Maßstabes - an allen Stellen entsprechende Textentscheidungen zu treffen. Auf diese Weise können auch geistliche Perspektiven (die für sich allein genommen subjektiv erscheinen können) berücksichtigt werden, um letztlich systematische, d.h. objektiv nachvollziehbare Entscheidungen treffen zu können.


   Weiteres Vorgehen


Die so gefundenen Kriterien müssen aber noch verfeinert werden und, sobald durch die Kollationen alle notwendigen Informationen über den handschriftlichen Überlieferungsbefund gewonnen sind, darauf basierende Textentscheidungen an allen fraglichen Stellen des neutestamentlichen Textes durchgeführt werden.


   Zwölf Grundregeln für Textentscheidungen


Als einen ersten Versuch für eine Konkretisierung der Kriterien für Textentscheidungen zitiere ich hier (jeweils in grün) die "zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit" (Kurt & Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments - Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, 2.Auflage, S. 284-285), ergänzt durch meine Kommentare mit dem Ziel, ggf. nötige Modifikationen für die Textkonstitution aus der Sicht dieses Projekts zu beschreiben.

 

1. "Nur eine Lesart kann die ursprüngliche sein, mögen zu einer Stelle auch noch so viele Varianten existieren. Lediglich in ganz seltenen Fällen wird es angesichts der Tenazität der neutestamentlichen Überlieferung bei textlich irgendwie relevanten Stellen zu einem non liquet zwischen zwei oder mehreren konkurrierenden Lesarten kommen können. Die Lösung von Schwierigkeiten im Text durch eine Konjektur oder die Annahme von Glossen, Interpolationen usw. an Stellen, wo die Textüberlieferung keine Brüche aufweist, sollte nicht gestattet sein, sie bedeutet eine Kapitulation vor den Problemen bzw. eine Vergewaltigung des Textes."

 

> Dies kann nur unterstrichen werden, und zwar noch verstärkt durch die geistliche Perspektive des Wortes Gottes. Da die heilige Schrift kein zufälliges Menschenprodukt, sondern eine von Gott gesetzte Größe und Realität ist, kann ihre Übermittlung und Existenz nicht grundlegend fehlschlagen. Somit ist auszuschließen, dass der von Gott gewollte Wortlaut nur durch textkritische Spekulationen erreichbar wäre, sondern er muss zumindest als bezeugte Variante in der Überlieferung vorhanden sein. Der Grundtext sollte daher keine Konjekturen oder unbezeugte Lesarten enthalten.

 

2. "Nur die Lesart kann ursprünglich sein, bei welcher die äußeren und die inneren Kriterien zu optimaler Übereinstimmung kommen."

 

> Natürlich ist es anzustreben, dass die gewählte Lesart möglichst von allen Kriterien unterstützt wird. Wo es daran mangelt, handelt es sich um einen schwierigen Fall bzw. die Entscheidung sollte noch einmal überprüft werden. Aber man muss auch zugeben: In der Praxis gibt es schwierige Stellen, wo das eine Kriterium die eine, ein anderes Kriterium eine andere Lesart zu unterstützen scheint. Nicht alle Stellen entsprechen dem Ideal einer textkritischen Entscheidung.

 

3. "Die Arbeit der Textkritik hat stets bei dem Befund in der handschriftlichen Überlieferung zu beginnen, erst dann sind die inneren Kriterien zu berücksichtigen."

 

> Auch dieses Primat der äußeren Kriterien wird durch die geistliche Perspektive noch unterstrichen. Denn was wir in den Handschriften vorliegen haben (worauf sich die äußeren Kriterien beziehen), entspricht im Prinzip dem, was "geschrieben steht" und also nach biblischer Lehre Autorität hat; es ist eine objektive Realität. Die inneren Kriterien hingegen unterliegen der Unsicherheit des menschlichen Urteilens, Empfindens und Spekulierens und können daher ebenso richtig wie falsch sein.

 

4. "Die inneren Kriterien (Kontext der Stelle, Stil und Sprachschatz, theologische Vorstellungswelt des Autors usw.) allein können eine textkritische Entscheidung nicht begründen, insbesondere nicht im Gegensatz zum äußeren Befund."

 

> Dies gilt auch aus den in Punkt 3 angegebenen Gründen. Für den Grundtext sollten daher nur Lesarten infrage kommen, die in mindestens einer der beiden großen Textformen (alexandrinisch und byzantinisch, dementsprechend Alter und Anzahl) überliefert sind. Wo diese beiden übereinstimmen, sollte keine von diesem Großkonsens abweichende Lesart akzeptiert werden, egal welche Thesen man aufgrund von inneren Kriterien aufstellen könnte.

 

5. "Das Schwergewicht bei einer textkritischen Entscheidung liegt bei der griechischen Überlieferung, der in den Versionen und Kirchenvätern kommt im allgemeinen nur eine ergänzende und kontrollierende Funktion zu, insbesondere dann, wenn der zugrunde liegende griechische Text nicht mit letzter Sicherheit zu rekonstruieren ist."

 

> Grund für diese Einschränkung ist, dass der Text, der uns in den Versionen und Kirchenvätern vorliegt, nur unvollkommene Rückschlüsse auf ihre griechische Vorlage erlauben, u.a. durch die Freiheit beim Übersetzen und Zitieren. Allerdings sind diese Überlieferungen auch nicht ganz unbedeutend, da sie auf griechische Zeugen zurückgehen, die uns oft nicht erhalten sind, eine größere regionale Vielfalt umfassen und, nachdem sie einmal erstellt worden sind, eine eigenständige Überlieferungslinie bilden, die dann von etwaigen späteren Verderbnissen innerhalb der griechischen Tradition unberührt bleiben können (das gilt übrigens auch für die Lektionare). Eine Ignoranz dieser alternativen Überlieferungen, etwa durch alleinige Anwendung der genealogischen Methode, kann daher irreführend sein.

 

6. "Dabei sind die Handschriften zu wägen, nicht zu zählen, außerdem sind bei jeder Handschrift ihre spezifischen Eigenarten zu berücksichtigen. Bei aller Hochschätzung der frühen Papyri, bestimmter Majuskeln und Minuskeln gibt es doch keine Einzelhandschrift und keine Gruppe von Handschriften, der man mechanisch folgen könnte, wenn auch bestimmte Kombinationen von Zeugen von vornherein mehr Vertrauen verdienen als andere. Vielmehr muß die textkritische Entscheidung von Fall zu Fall neu erfolgen (lokales Prinzip)."

 

> Hier sind zwei unterschiedliche Kriterien angesprochen. Erstens: Nicht die Anzahl der Handschriften ist entscheidend, sondern ihr Textwert. Das ist insofern richtig, als bestimmte Textzustände besonders oft kopiert wurden und daher ihre bloße Anzahl noch keinen Aufschluss über ihre Ursprungsnähe erlaubt. Wenn die "Anzahl" bzw. der mit ihr gemeinte Zeugenbestand sich allerdings aus mehreren Überlieferungslinien zusammensetzt, die voneinander relativ unabhängig sind, dann ist die entsprechende Masse aber auch textkritisch gesehen von Gewicht. Daraus erklärt es sich auch, dass der NA-Text tatsächlich zum großen Teil mit dem Mehrheitstext übereinstimmt, sogar an manchen Stellen, wo einige ältere Zeugen von diesem abweichen. Denn es gilt zweitens: Auch alte oder als zuverlässig angesehene Zeugen haben individuelle Fehler und müssen daher korrigiert werden (meist in Richtung Mehrheitstext, der dann auch von anderen alten Zeugen unterstützt wird). Dies erkennt man, wenn man den Text eines alten Codex einmal Wort für Wort mit einem Grundtext (sei es NA oder MT) vergleicht. Manchmal stimmt sogar die Mehrheit der (erhaltenen!) alten Zeugen in einer Lesart überein, die von der Textkritik zu Recht als nicht-ursprünglich beurteilt wird (Beispiel: Mt 27,49); hier muss der sog. "alte Text" zum Mehrheitstext hin korrigiert werden. Umgekehrt kann man natürlich auch dem Mehrheitstext (oder bestimmten Familien, die ihm angehören) nicht mechanisch folgen, da sich einige frühe Fehler durch die umfassende Kopierarbeit der byzantinischen Kirche weit verbreitet haben und zahlenmäßig überwiegen. Fazit: Da jede einzelne Überlieferungslinie ihre individuellen Fehler hat, darf die Betrachtung des Textwertes der Zeugen nicht die primäre Basis für Textentscheidungen sein, sondern es muss das Gesamtbild aller Überlieferungslinien (besonders der voneinander unabhängigen) betrachtet werden - abgesehen davon, dass die Definition von "Textwert" schon an sich unterschiedlich ausfallen kann, abhängig von der vertretenen Position.

 

7. "Der Grundsatz, daß in jeder Handschrift oder jeder Übersetzung, auch wenn sie allein oder fast allein steht, die ursprüngliche Lesart zu finden sein könne, ist nur in der bloßen Theorie richtig, ein Eklektizismus, der vornehmlich nach dieser Devise verfährt, wird nicht zum ursprünglichen Text des NT, sondern nur zu einer Bestätigung der Vorstellung von dem Text kommen, von der er ausging."

 

> Die Kritik ist berechtigt, denn die beschriebene Methode ignoriert die äußeren Kriterien und benutzt die handschriftliche Überlieferung nur als Fundgrube für Varianten, ohne die Stärke ihrer Bezeugung irgendwie zu beachten. Das Ergebnis ist ein notwendigerweise subjektives Urteil aufgrund innerer Kriterien, dem das Korrektiv durch die Handschriften fehlt. Dies ist schon aus den in 3. und 4. genannten Gründen abzulehnen. Aber auch die alleinige Anwendung der genealogischen Methode (als Stammbaumprinzip) unterliegt diesem Einwand, da auch sie nur die Varianten ohne ihre Bezeugung sieht und somit zu einem Grundtext führen kann, dem die angemessene Bezeugung durch die Handschriften fehlt (schon aus überlieferungstechnischer Sicht ist es zweifelhaft, ob eine Urtextlesart derart schlecht bezeugt sein kann; aus geistlicher Sicht fällt die Ablehnung eines kaum bezeugten und sozusagen nur spekulativ kreierten Wortlauts noch eindeutiger aus, da das Wort Gottes gemäß 2.Tim 3,14-17 als eine vorhandene, verbreitete und greifbare Realität zu verstehen ist).

 

8. "Die Herstellung eines Stammbaums der Lesarten bei jeder Variante (genealogisches Prinzip) ist ein überaus wichtiges Hilfsmittel, denn die Lesart, aus der sich die Entstehung der anderen ohne Zwang erklären läßt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche."

 

> Das Problem dieses Ansatzes ist die unreflektierte Verabsolutierung der ältesten Fassung als einziges Ziel der Textkritik. Sie ignoriert den natürlichen Entstehungs- und Entwicklungsprozess eines Textes, der im Fall des Neuen Testaments nicht auf den ursprünglichen Verfasser (oder gar dessen ersten Entwurf) einzuschränken ist, sondern als Werk des heiligen Geistes in einem umfangreicheren Rahmen anzusetzen ist. Wenn zum Beispiel Jesus am Kreuz "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" gebetet hat und dies in der ersten Fassung von Lk 23,34 noch nicht festgehalten wurde, aber durch Augenzeugen und (zunächst) mündliche Überlieferung belegt war und daher nachträglich eingefügt wurde (sei es durch Lukas selbst oder durch andere Apostel oder berufene Augenzeugen), so kann diese Ergänzung als im Einklang mit dem Willen Gottes und somit als inspirierter, legitimer Bestandteil der endgültigen Fassung des Lukasevangeliums angesehen werden; wenn diese Ergänzung nun gemacht worden ist, nachdem schon eine erste Kopie der älteren Fassung in Umlauf kam, so finden wir natürlich beide Varianten in der Überlieferung, eine frühere und eine spätere Phase in der Entstehung des Textes, wobei die spätere Phase die frühere zu Recht praktisch völlig verdrängt hat. Wenn wir diesen Entwicklungsprozess als von Gott geführt anerkennen, wäre es nicht zielführend, ihn künstlich wieder rückgängig zu machen. Aus dieser Perspektive ist das genealogische Prinzip nicht als primäre Methode der Textkonstitution des NT geeignet.

 

9. "Varianten dürfen nicht isoliert behandelt, sondern es muß stets der Kontext der Überlieferung beachtet werden, sonst ist die Gefahr der Konstituierung eines 'Textes aus der Retorte', den es nirgendwann und nirgendwo real gegeben hat, zu groß."

 

> Dieser Einwand richtet sich noch einmal gegen den radikalen Eklektizismus (s. 7), der aus verschiedenen Quellen Lesarten auswählt und dann zu einem Ganzen zusammensetzt, das so vielleicht nie von einer Handschrift, auch nicht vom Urtext, gelesen wurde. Aber in einem weiteren Sinn muss sich jede Methode, die minderheitlich bezeugte Varianten befürwortet, diesem Einwand stellen. So kritisiert M. Robinson (in einem demnächst zu veröffentlichenden Essay) auch den NA-Text als einen Text aus dem ‘Reagenzglas’ und listet eine Reihe von Versen auf, deren NA-Wortlaut (in seiner Kombination von Varianten über mehrere aufeinander folgende Stellen hinweg) so von keiner Handschrift bezeugt wird. Allerdings darf dieser Einwand nicht zu einer Verwerfung des lokalen Prinzips (s. 6) führen, da feststeht, dass jeder Zeuge (und jede Zeugengruppe) irren kann und daher die Lesarten für einen Grundtext aus mehreren Zeugen oder Überlieferungslinien zusammengesetzt werden müssen. Die Wahl von Lesarten, die jeweils von mehreren (oder einer Mehrheit von) Überlieferungslinien bezeugt sind, ermöglicht hier eine Ausgewogenheit: Sie vermeidet die Herstellung eines künstlichen (kaum bezeugten) Textes, und achtet trotzdem das lokale Prinzip, indem sie nicht einem ausgewählten Zeugen (oder einer Zeugengruppe) mechanisch folgt.

 

10. "Die lectio difficilior ist die lectio potior. Allerdings darf dieses Prinzip nicht mechanisch in Anspruch genommen werden, so daß die lectio difficillima allein wegen ihres Schwierigkeitsgrades als die ursprüngliche gewählt wird."

 

> Hier muss ein Mittelweg gefunden werden. Natürlich können Abschreiber der Versuchung erliegen, eine schwer verständliche oder falsch erscheinende Aussage zu glätten oder zu korrigieren (etwa in der Meinung, den Urtext wiederherzustellen), während diese problematische Lesart bei tieferer Einsicht doch durchaus Sinn macht. Andererseits können aber schwierige Stellen auch durch Abschreibversehen entstehen. Außerdem muss gefragt werden, wann Lesarten, die inhaltlich, sprachlich oder grammatikalisch als schwierig oder falsch beurteilt werden, im Widerspruch zur Inspiration stehen. Die Bevorzugung der lectio difficilior überschreitet dann das rechte Maß, wenn sie zu einem Text führt, der aufgrund von fehlerhaften Aussagen im Text nicht mehr als vollkommenes Wort Gottes erkennbar ist. Andererseits sind Gottes Gedanken höher als unsere Gedanken, so dass eine auf den ersten Blick schwierig erscheinende Lesart durchaus Gottes Wort sein kann; eine voreilige Entscheidung für die leichtere Lesart aus Gründen der Inspirationslehre kann somit auch kontraproduktiv sein. Beide Aspekte sollten also in Ausgewogenheit betrachtet werden.

 

11. "Die alte Maxime: lectio brevior = lectio potior ist in vielen Fällen richtig, darf aber ebenfalls nicht mechanisch angewandt werden. Sie verliert ihr Gewicht ohnehin bei Zeugen, deren Text nicht im Rahmen der sonst zu beachtenden Gesetze der Textüberlieferung bleibt, sondern ständig infolge der vielfachen Kürzungen bzw. Erweiterungen des Bearbeiters (z.B. D) eigenwillig davon abweicht. Auch die im allgemeinen gültige Faustregel, daß aus Paralleltexten stammende oder ein AT-Zitat dem Septuagintatext anpassende Varianten sekundär sind, darf nicht rein mechanisch angewandt werden. Konsequenzmacherei ist hier genauso gefährlich wie bei der Grundregel 10 (lectio difficilior)."

 

> Hintergrund dieser Regel ist, dass Abschreiber eher dazu tendieren, etwas hinzuzufügen, als etwas wegzulassen (außer bei den genannten eigenwilligen Handschriften). Weglassungen sind in Einzelhandschriften trotzdem sehr häufig, oft aufgrund von Homoioteleuton, aber dann sind sie Versehen und können auch relativ leicht als solche identifiziert werden. Ein bewusstes Kürzen ist eher selten, weil es praktisch einer Textfälschung gleichkommt, die ein Abschreiber in der Regel kaum wagte, während eine Hinzufügung im Sinne einer Ergänzung oder Erklärung nichts unterschlägt und als gutgemeinte Modifikation eher akzeptabel erschien (besonders in der Frühzeit, als der Schwerpunkt - wohl zu Recht - in der Weitergabe der Botschaft und der erfahrenen Ereignisse lag und nicht in der Bewahrung einer Textform oder Texttradition). Deswegen begründet Aland die Auslassung der von ihm als sekundär beurteilten Verse und Versteile immer mit der rhetorischen Frage: 'Wer hätte diesen Satzteil wohl gestrichen, wenn er ursprünglich da gestanden hätte?' (S. 313) - Allerdings sollten wir uns jetzt auch umgekehrt eine ähnliche Frage stellen: Wenn diese Worte im Bibeltext überliefert sind, warum sollten wir sie weglassen? Worte wie Lk 23,34a oder Joh 7,53-8,11 mögen nachträgliche Ergänzungen sein (obwohl man darüber streiten kann), aber wenn sie auf einer Vervollständigung des göttlichen Gedankenguts bzw. auf zuverlässigen Augenzeugenberichten basieren, durch ihre Verbreitung in fast allen Handschriften quasi kanonischen Rang erlangt haben und ihre Streichung keinerlei inhaltlichen Nutzen bringt, sondern eher einem Verlust gleichkommt, wer sind wir dann, dass wir sie aufgrund menschlicher Erwägungen streichen wollen? Wäre es unter diesen Umständen nicht angemessener, sie (im Einklang mit der Überlieferung) als Bestandteil von Gottes Wort zu akzeptieren? (Man beachte, dass die biblischen Aussagen zum Wesen der heiligen Schriften sich nicht auf eine Inspiration durch Diktat beschränken, sondern auch Raum für einen Entwicklungsprozess mit menschlicher Beteiligung geben, vgl. Lk 1,3; das Interesse säkularer Textkritik an dem Wortlaut einer bestimmten historischen Verfasserperson verliert seine primäre Stellung angesichts der von Gott selbst geführten Entstehung der heiligen Schrift).

 

12. "Die ständig erneuerte Erfahrung im Umgang mit der handschriftlichen Überlieferung ist die beste Lehrmeisterin der Textkritik. Wer produktiv an ihr teilnehmen will, sollte vorher mindestens einen großen frühen Papyrus, eine bedeutende Majuskel und eine wichtige Minuskel vollständig kollationiert haben, die reinen Theoretiker haben in der Textkritik oft genug mehr Schaden als Nutzen angerichtet."

 

> Diese Forderung kann nur unterstrichen werden. Erst wer aus der Praxis weiß, welche Fehler beim Abschreiben unterlaufen, welche Arten von Lesarten neu entstehen und wie die Wortlaute mehrerer Handschriften (und ihrer Gruppen) im Verhältnis zueinander stehen - und zwar über den gesamten Text hinweg, nicht nur an den für einen Apparat typischen Stellen - bekommt ein Gefühl für die Gesetzmäßigkeiten der Textüberlieferung, für die Stärken und Schwächen der handschriftlichen Überlieferung und für die Angemessenheit oder Unangemessenheit bestimmter Texttheorien. Ohne diese Grundlage entbehren Textentscheidungen des nötigen Feingefühls und Realitätsbezugs.